Mein Onkel, Franz Hintermair (zweiter von rechts – *01.Mai.1936, gest. 2020) war ein leidenschaftlicher Motorradfahrer – möglicherweise wurde ihm das schon in die Wiege gelegt….
Seit Jahren lief sein Geburtstag so ab: Er suchte Monate vorher einen passenden Ort für die Zusammenkunft zu seinem Geburtstag aus, z.B. standen zur Auswahl: Italien, Frankreich, Bayerischer Wald und weitere entlegene Orte. Meist handelte es sich um einen Campingplatz, den er dann per Motorrad mindestens einmal vorher bereiste und besichtigte, ob die Location für die bald feiernde Gruppe standhielt. Tage vor dem ersten Mai begann die Anreise des Jubilars mit dem Motorrad und eine Gruppe von Familie und Freunde folgten – wenn möglich, mit dem motorisierten Zweirad. Zum 80. Geburtstag reisten schon allein 18 Motorräder an – weitere Familienmitglieder und Freunde folgten.
Bei den abendlichen „Benzingesprächen“ kam es, dass Franz von dem Archivieren der Familiengeschichte erzählte – ein kleiner Anteil seiner Aufgaben seit dem Ruhestand. Unter anderem wurde das besagte Foto angesprochen und dass es nur diese eine Aufnahme von dem Motorrad gäbe – welches sein Vater und mein Opa einmal besessen hatte. Zunächst als nichts Besonderes abgetan, bat ich nach dem Ausflug Franz, mir eine gut eingescannte Aufnahme des Motorrad-Fotos zur Verfügung zu stellen. Meine Idee war, zu versuchen, ob dieses Motorrad heute noch auffindbar wäre. Die Chance war eher als sehr gering einzustufen. Das war im Jahr 2010.
Zunächst galt es, das ungefähre Aufnahmedatum festzustellen. Auf dem Tank sitzt mein Vater Richard Hintermair – er muss da wohl maximal zwei Jahre alt gewesen sein – eher jünger. Da er im März 1938 geboren ist, konnte das Foto aller Wahrscheinlichkeit nach auf das Jahr des Kriegsbeginns datiert werden. Nach Erzählungen sei das Motorrad mit sehr großem Hubraum ausgestattet gewesen – was sehr Besonderes zu dieser Zeit. Es soll lt. Franz eine 750er gewesen sein. Erst einige Geburtstage später erinnerte er sich daran, dass er als kleiner Junge schon mit nach Augsburg zu Auto Sigg – heute Esso-Tankstelle an der blauen Kappe – mitfahren durfte. Ein Hinweis, dass dort das Motorrad entweder erworben oder zur Reparatur oder Wartung hingebracht wurde. Damals gab es noch keine Marken-Bindung der KFZ-Händler und BMW nutzte das freie Händlernetz für den Verkauf und die Auslieferung von Motorrädern – soviel konnte ich bei BMW erfahren.
Da das BMW-Schild auf dem Motorrad einwandfrei erkennbar war, ging mein erster Weg zur „Mobilen Tradition“ – das ist die Oldtimer-Abteilung von BMW. Sehr hilfsbereit wurde dort festgestellt, dass es sich um eine 750er oder aber eine 500er BMW-Maschine handelt – also eine R62 oder eine R52. Genaueres konnte man anhand des Fotos nicht ergründen. Das Baujahr wurde auf ziemlich genau 1928 geschätzt – leider waren lt. Auskunft die Auslieferungsbücher aus diesem Jahr nicht mehr vorhanden. Mir erschien die Suche nahezu aussichtslos.
Wochen später im Gespräch mit Franz, meinte er sich zu erinnern, mal gehört zu haben, dass die Maschine an die Familie Schredl in Sirchenried verkauft wurde – erst 2020 fand ich einen sehr kurzen Eintrag in Omas Tagebuch von 1948 – „Haben Motorrad wegen Geldmangel verkauft.“
Ein zwei Jahre nach meinem aussichtslosen Kontakt mit BMW, traf ich auf einem Geburtstag von Anton Wittmann sen., Gagers den Schredl Sepp aus Sirchenried. Ich sprach ihn auf das alte Motorrad an, er meinte sich wage erinnern zu können an ein schwarzes Motorrad aus seiner Kinderzeit. Aber das sei schon lange vom Hof verschwunden – irgendwo Richtung Aichach soll es vor vielen Jahren verkauft worden sein – Obergrießbach könnte es gewesen sein.
Diese neue Spur gab neuen Auftrieb. Ich fragte einen früheren Kollegen in der Raiffeisenbank nach älteren Personen im Ort Obergriesbach, die da noch was hätten wissen können. Ich wurde an Familie Rast verwiesen und der alte Herr Rast wusste sofort was von diesem Motorrad, welches auch schon damals im Ort aufgrund seiner PS-Stärke aufgefallen ist. Umgehend bekam ich eine Adresse und wenige Tage später klingelte ich dort an der Tür. Ein älterer Herr öffnete, ich erklärte meine Absicht und zeigte das Foto mit dem Motorrad. Selbstverständlich sei das Motorrad noch da, ich solle mitkommen in die Garage, da könne ich es mir ansehen. Der Herr warf eine Decke zur Seite, darunter kam das Motorrad zum Vorschein – in Originalzustand. Ich war am Ziel. Erneut zog ich das Foto und erklärte, dass das selbstverständlich dieses Motorrad auf dem Bild sein müsse.
Der Herr lud mich ein und wir durchforsteten alle seine Unterlagen und Bilder zu diesem Motorrad. Lückenlos bewies er, dass dieses Motorrad seit jeher in Familienhand sei. Alles war absolut stimmig und nachvollziehbar. Das gibt es doch nicht – war nochmal ein Motorrad aus einem Baujahr Ende 1920 im Landkreis zu finden. Mir wurde erzählt, dass Vertreter von BMW vor Jahren schon vorgesprochen haben und das Motorrad für eine amtliche Summe für das BMW-Museum erwerben wollten – der Enkel des Eigentümers im einstelligen Alter sich aber erfolgreich dagegen gewehrt hat.
Ich gab vorübergehend auf, weiter aktiv zu suchen – es gab keine Anhaltspunkte mehr.
Wieder einige Zeit später traf ich erneut auf Schredl Sepp. Ich erzählte ihm von der mehr oder weniger erfolglosen Suche in Obergriesbach – der Ort, in den er mich damals geschickt hatte um mein Glück zu versuchen. Er war überraschender Weise der Meinung, dass er nie von Obergriesbach gesprochen hätte, sondern selbstverständlich Griesbeckerzell gemeint hatte.
Aha, eine neue Spur. Sofort zog ich alle Register, um in Griesbeckerzell einen Zeitgenossen ausfindig zu machen, der sich noch erinnern könnte. Ich traf auf den über 80-jährigen ehemaligen Dorfschmied. Er konnte so gut wie nichts mehr sehen – aber durch meine Erzählungen erinnerte er sich sofort an das Motorrad, dass damals schon in der Werkstatt repariert wurde, in der wir im Moment gestanden haben. Es sei im Eigentum des Dorfwirtes gewesen.
Kurz darauf besuchte ich diesen. Zusammen mit seiner Frau am Küchentisch sitzend schwärmte er von dem Motorrad, welches er Anfang der 50er Jahre irgendwo im „Odelzhausener Raum“ gekauft habe. Seine Frau erzählte, dass sie nur ungern darauf mitgefahren sei – aber einmal ein gemeinsamer Ausflug zum Sandbahnrennen nach Haunstetten unternommen wurde – damals. Der ehemalige Wirt erzählte, dass das Motorrad so dermaßen marode war, da der Vorbesitzer wohl einen Kälberstrick durch das Hinterrad gezogen hatte und jahrelang die Maschine als Ackergaul mit einem einscharigen Pflug verwendet hatte. Geld für teure Ersatzteile war Anfang der 50er Jahre nicht vorhanden und außerdem fuhr man ja ein Auto, sobald man sich eines leisten konnte. Mit ziemlicher Sicherheit konnte der Wirt berichten, dass er das Motorrad eigenhändig um 1956 zu einem Schrotthändler nach Augsburg gefahren ist. Hier endete meine Suche…
…für kurze Zeit. Ich kenne Bernd Dehner, den heutigen Geschäftsführer von Dehner Recycling, den ich im März 2021 antraf. Auf meine Nachfrage und der Schilderung meiner jahrelangen Suche, erklärte er mir, dass es die Firma bereits seit Anfang der 50er Jahre gäbe – in diesem Jahrzehnt in Augsburg aber über 200 Betriebe ihr Bestes im Verwerten von Abfall und Schrott versuchten und in den 50ern gab es den Begriff Oldtimer noch lange nicht – da landete das alte Glump immer im Container. Ich solle aber mal mit seinem 70jährigen Onkel reden, der noch für ein paar Stunden im Familienunternehmen arbeitet… Ausgang ungewiss.
Da das Nummernschild auf dem Motorrad sehr gut zu erkennen ist, nahm ich Kontakt mit dem Archivar der Stadt Friedberg auf um eventuell über das KFZ-Zulassungswesen an die Fahrgestellnummer zu gelangen um dann beim Kraftfahrtbundesamt erfragen zu können, ob die Fahrgestellnummer jemals nach den 50er Jahren nochmal aufgetaucht ist. Der Friedberger Archivar verwies mich an das Staatsarchiv München, da die Bezeichnung IIB auf dem Nummernschild ja für Oberbayern stand und wenn, dann nur in München was zu erfahren sei. Herr Dr. Christoph Baumann, der Leitende Archivdirektor, antwortete mir umgehend, dass aus dem Bereich des Zulassungswesens nichts in das Staatsarchiv übernommen wurde, sondern nach den Aufbewahrungsfristen bei den Zulassungsstellen alles vernichtet wurde. Er fand aber noch einen neuen Ansatz: Sofern das Motorrad nach dem Krieg beschlagnahmt wurde oder unter Kuratel gestellt wurde, könne man über die Kriegskostenerstattungen evtl. etwas beim Bayerischen Hauptstaatsarchiv erfahren. Und wenn der Großvater Parteimitglied gewesen wäre und das gesamte Vermögen unter die amerikanische Verwaltung gestellt worden wäre – könne man auch noch winzige Ansatzpunkte verfolgen. Ich solle ihm mal den Namen des Großvaters nennen.
Ich meldete ihm Franz Hintermair oder Hintermayr zurück, denn die Schreibweisen wurden ja je nach Laune des Gemeindeschreibers über die Jahre gerne verändert. Umgehend bekam ich am selben Tag Antwort, dass er nur einen Bauplan aus dem Jahr 1971 Hs. Nr. 119 auf Fl.Nr.911/1 finde. Mit den Worten „Das wird dann wohl nichts mehr.“ endete sein email.
05.04.2021 Christian Hintermair
Sehr schön geschrieben und eine gute Idee